Wir haben die Chance, Künstliche Intelligenz zu nutzen, um Innovation in der medizinischen Versorgung zu ermöglichen. Wie nutzen wir sie verantwortungsvoll?
Fortschritt und Chancen
Das deutsche Gesundheitssystem ächzt unter der finanziellen Last. Für 2023 prognostizieren gesetzliche Versicherer ein Defizit von 17 Milliarden Euro. Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht ein Viertel aller Krankenhäuser bedroht.
Die soziale Errungenschaft eines Gesundheitssystem steht zur Zeit nicht nur vor finanziellen Herausforderungen, sondern muss auch die Aufgabe bewältigen, sich an den demografischen Wandel anzupassen: Eine alternde Bevölkerung führt zu einem zunehmenden Bedarf an medizinischen- und Pflegedienstleistungen.
Demgegenüber steht ein hoher ungedeckter Bedarf an Fachkräften. So zählte die Bundesagentur für Arbeit für im Juli 2023 um die 50.000 offene Stellen in medizinischen Gesundheitsberufen.
Wir befinden uns gerade an einem einmaligen Zeitpunkt, an dem KI in der Lage ist, diese Herausforderungen wesentlich mit zu bekämpfen und darüber hinaus Innovation und Fortschritt zu schaffen, die für das Wohlergehen der Menschheit wichtig sind. Das liegt an zwei Faktoren:
- Erstmals sind die technischen Voraussetzungen dafür erfüllt, KI auf einem marktreifen Niveau zu verwenden. Das zeigt sich beispielsweise im fortgeschrittenen Stadium von Sprachmodellen wie ChatGPT.
- Dazu kommt die mittlerweile ausreichend hohe Verfügbarkeit und Qualität von digitalen Daten aus den Bereichen Life Science und Medizin. Viele Geräte besitzen Schnittstellen und sind technisch dazu in der Lage, Daten zu sammeln.
Wie KI die Medizin besser macht
Die Einsatzmöglichkeiten von KI umfassen die Forschung und Ausbildung, Gesundheitsprävention – Beratung – Diagnose – Behandlung – Pflege/Reha – DIGAS/DIPAS und auch die die administrative Steuerung von Prozessen, Krankenhäusern und Datenströmen. Letztendlich sind sie so vielfältig wie das medizinische Feld selbst.
Einsatzgebiet Forschung:
Medizin und Forschung sind traditionell eng verflochten. In der Forschung wurde KI schon früh eingesetzt, da sich die Grundlagenforschung außerhalb engerer regulatorischer Rahmen bewegt. KI-Algorithmen wurden und werden oftmals zur Lösung und anhand von Forschungsfragen weiterentwickelt. An vorderster Front der Wissenschaft ist KI am visionärsten, wagemutigsten und im steten Fluss der Weiterentwicklung.
Das zeigt sich beispielsweise daran, wie KI jetzt schon die Suche nach neuen Wirkstoffen in der Pharmaindustrie verändert. Durch Vorhersagen und virtuelle Teste identifiziert KI viel versprechende Kandidaten, beschleunigt die Entwicklung, optimiert chemische Synthesen und ermöglicht Wirkstoff-Repositionierung. Dies verkürzt Entwicklungszeiten und senkt Kosten KI verändert die Medikamentenentwicklung gerade grundlegend, sodass wir hier von einer weitreichenden Revolution sprechen können.
Bei der Entwicklung des Corona-Impfstoffes von Moderna kam Künstliche Intelligent zum Einsatz. So berichtet Dave Johnson, Chief Data and Artificial Intelligence Officer bei Moderna, dass die KiI Vorhersage der Wirksamkeit deutlich erleichtert.
Einsatzgebiet Onkologie:
In der onkologischen Diagnostik geht es darum, Abweichungen von Mustern in Bildern zu erkennen. Für die Analyse von Bilddaten u.A. Röntgen- oder CT-Bildern oder histologischen Schnitten steht in der EU heute schon passende Software zur Verfügung, beispielsweise vom Hamburger Unternehmen Mindpeak. Eine im The Lancet Journal veröffentlichte Studie zeigt, dass die Nutzung von KI in der Bewertung von Mammografien, die Zeit, die ärztliches Fachpersonal zur Auswertung benötigt um 44 Prozent reduziert werden konnte.
Diese Art von Anwendungen hat eine rein unterstützende Funktion und kann Expert:innen nicht ersetzen. Allerdings wird das Fachpersonal entlastet. Teilweise steht auch eine bessere Diagnose in Aussicht, was im Falle einer Tumordiagnose ein weitreichender Fortschritt für den Patienten ist.
Die Kombination von KI mit medizinischen Daten ermöglicht zudem personalisierte Therapieansätze. Traditionell werden Tumorbehandlungen auf der Grundlage von allgemeinen Behandlungsrichtlinien und Durchschnittswerten entwickelt. KI ermöglicht eine differenziertere Herangehensweise, die die einzigartigen Eigenschaften eines jeden Patienten berücksichtigt.
In der Onkologie können umfangreiche genetische, molekulare und klinische Daten von Patienten gesammelt und analysiert werden. KI-Modelle können diese Daten interpretieren und Muster erkennen, die auf die besten Therapieoptionen für den jeweiligen Patienten hinweisen. Zum Beispiel könnte eine KI auf der Grundlage von genetischen Informationen eines Tumors und individuellen Gesundheitsmerkmalen eine personalisierte Behandlung empfehlen, die speziell auf die genetische Zusammensetzung und die Reaktion des Patienten abgestimmt ist.
Die individualisierte Medizin durch KI ermöglicht zudem eine kontinuierliche Überwachung der Patientin. Sensoren können Daten wie Herzfrequenz, Blutdruck und andere wichtige Parameter in Echtzeit sammeln. KI-Systeme können diese Daten dann wiederum analysieren und bei Bedarf zeitnahe Anpassungen empfehlen. So können Komplikationen frühzeitig erkannt und die Therapie in Echtzeit optimiert werden.
Einsatzgebiet Personalplanung:
Durch den Einsatz von KI bieten sich Chancen, die umfangreichen administrativen Aufgaben zu vereinfachen. Ein Beispiel in der Krankenhausadministration ist die Verbesserung des Ressourcenmanagements bei der Personalplanung.
Krankenhäuser müssen ihren Personalbedarf zu prognostizieren und sicherzustellen, dass zu jeder Zeit ausreichend qualifiziertes Personal vorhanden ist. Traditionell basiert die Personalplanung auf historischen Daten und Erfahrungswerten, was zu Unsicherheiten und Engpässen führen kann. Mithilfe von Algorithmen können Krankenhäuser relevante Daten analysieren und so präzisere Vorhersagen über den Personalbedarf zu treffen. Zu den relevanten Faktoren gehören zum Beispiel wie Patientenaufkommen, Krankheitsmuster, saisonale Schwankungen und sogar Wetterbedingungen, die Auswirkungen auf die Patientenzahlen haben könnten.
Fallstricke in der Praxis
Die genannten Anwendungsfälle zeigen zwei grundlegende Eigenschaften derzeitiger KIs:
Zum einen werden KI-Algorithmen auf spezifische Aufgaben trainiert, wie zum Beispiel auf das Erkennen von Tumorgewebe oder die Prognose von Proteinstrukturen. Im Einsatz im Gesundheitswesen gibt es (noch) keine universelle KI. KI-Algorithmen können zwar vielfach Einzelaufgaben effektiver ausführen als der Mensch, sie haben aber kein globales Verständnis oder gar ein moralisches Empfinden. Sie führen schlicht ihre spezifisch begrenzte Aufgabe aus, indem sie anhand statistischer Wahrscheinlichkeiten Vorhersagen treffen.
KI-Systeme an kritischen Positionen, und diese sind zahlreich im Gesundheitssystem, nicht darauf ausgelegt ohne menschliche Überwachung wichtige Entscheidungen treffen zu können. Sie assistieren lediglich und können als Entscheidungsunterstützung dienen.
Daraus ergibt sich, dass KI-Systeme zwar an vielen Stellen unterstützen und entlasten, oder Effizienz steigern, aber keine globale Lösung für die Herausforderungen im Gesundheitswesen darstellen können, sondern systemimmanent agieren.
Die rasante Entwicklung der KI bis hin zum heutigen Stand, die sie im Alltag und Gesundheitswesen einsetzbar macht, erfordert einen intensiven gesellschaftlichen Diskurs über den Umgang mit den Chancen und Risiken. Außerdem brauchen wir neue Rahmenbedingungen , die den sicheren Einsatz ermöglichen und gleichzeitig die innovative Kraft der Technologie nicht substantiell einschränken. Auf dem Weg zur Integration von KI-Systemen ins Gesundheitswesen stehen Nutzer:innen und Herstellende von KI-Systemen vor verschiedenen Fragen:
- Wie kann die erwartete Vielzahl vielversprechender KI-Systeme auf strukturierte und effektive Weise in den sensiblen Bereich das Gesundheitswesens integriert werden?
- Wie kann mit regulatorischer Unsicherheit bei der Entwicklung und dem Einsatz von KI-Produkten umgegangen werden, unter anderem im Hinblick auf Regulierungen wie den EU-AI-Act?
- Wie kann eine bessere Digitalisierung von Arztpraxen und Krankenhäusern gelingen und alte Prozesse sinnvoll abgelöst- wie beispielsweise bei der Einführung der digitalen Krankenakte?
- Wie lässt sich die bereits bestehende Fülle vorhandener medizinischer Daten verantwortungsbewusst nutzen, unter Berücksichtigung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sowie der Datensouveränität und Selbstbestimmung der Patienten?
- Welche Maßnahmen sind erforderlich, um die Technologie- und Datensouveränität im Bereich Gesundheit in Europa zu gewährleisten? Wie kann das Know-how erhalten und in geistiges Eigentum umgesetzt werden?
Fazit
Fortschritte in den Bereichen maschinelles Lernen, Deep Learning und Computer Vision haben KI-Systeme leistungsfähig gemacht und sind für zahlreiche Anwendungsfälle geeignet. Die schnelle Entwicklung im Bereich der Künstlichen Intelligenz ist Herausforderung und Chance.
Der Diskurs wird intensiver und lauter. Bei vielen Stimmen wird immer schwieriger zwischen Partikularinteressen, Lobbyismus, Goldgräberstimmung und echtem Mehrwert zu differenzieren. Die intensiven Bemühungen von Forscher:innen Praktiker:innen, ihre Erfahrungen transparent zu machen, sind darum ein wichtiger Bestandteil. Wir brauchen mehr wissenschaftliche Studien, unabhängige Berichterstattung und einen lebendigen KI-Diskurs, der neben einer Fachöffentlichkeit auch die breite Gesellschaft erreicht.
ÜBER DIE AUTORINNEN
Natalie Rotermund ist promovierte Neurowissenschaftlerin. Beim ARIC beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang von KI und Health/Life Sciences und spricht auf der solutions:health zum Thema. Außerdem ist sie in der Quantentechnologie-Initiative hqic tätig, die im ARIC beheimatet ist. Mehr Infos zu Natalie findest du hier.
Sabrina Pohlmann ist Soziologin und kommuniziert KI-Themen für’s ARIC.
Quellen:
- https://www.thelancet.com/journals/lanonc/article/PIIS1470-2045(23)00298-X/fulltext?dgcid=linkedin_organic_trials23_lanonc&utm_campaign=trials23&utm_content=259245129&utm_medium=social&utm_source=linkedin&hss_channel=lcp-1155238
- https://www.thelancet.com/journals/lanonc/article/PIIS1470-2045(23)00298-X/fulltext?dgcid=linkedin_organic_trials23_lanonc&utm_campaign=trials23&utm_content=259245129&utm_medium=social&utm_source=linkedin&hss_channel=lcp-1155238
- https://sloanreview.mit.edu/audio/ai-and-the-covid-19-vaccine-modernas-dave-johnson/
- https://statistik.arbeitsagentur.de
- https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/lauterbach-krankenhausreform-100.html
- https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2022/08/15/wohin-fliesst-das-geld-der-gesetzlichen-krankenkassen
Weiterführende Quellen: